LIVING PEOPLE - page 40

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Der Student
Als sie mich ansprach im Café gegenüber der Universität, war
mein erster Gedanke: Eine Verwechslung!
Die Einladung zu den Festspielen kam aber irgendwie gelegen,
wie komme ich sonst je zu einer Karte? Erst zuhause fiel mir auf,
dass ich nicht nach dem Titel der Veranstaltung gefragt hatte.
Ihre Anweisung, ich solle mich immer zwei Schritte hinter ihr
halten, war schon ein wenig merkwürdig. Das war die ganze
Situation aber sowieso. Dann, in der pompösen Eingangs-
halle, war es mir ganz recht. Ich konnte von meiner Position aus
ungestört beobachten und hatte meinerseits Ruhe vor Smalltalk.
Nie hätte ich geglaubt, dass mir Verdi so viel bedeuten kann.
Ausgerechnet Verdi. Das ist überhaupt nicht meine Epoche.
Aber diese Musik! Dieses Wogen und Fragen!
Dieser Nil!
Ja, doch, es hat gut gepasst, in den ganzen Opernzyklus mit ihr zu
gehen. Ich werde mein Dissertationsthema ändern.
Ich kenne bis heute nur ihren Vornamen.
Sagen Sie Olga zu mir.
Ich glaube, sie heißt gar nicht Olga.
Als sie dann bei mir im Zimmerchen saß, die Teeschale in der
Hand (die ohne abgebrochenen Henkel), als sie sich umsah, ganz
ungeniert – da lag in ihrem Blick etwas ... Wiedererkennendes.
Da sah sie plötzlich aus wie Tante Gerti.
Ich glaube, nach Russland auszuwandern, das ist ihr irgendwann
einfach so passiert. Eine Verkettung von Momenten sozusagen.
Als sie bei mir im Zimmerchen saß, das war ein schöner Moment,
fast schon wie ...vertraut.
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